Pressemitteilung: Sieg vor dem OVG Münster gegen Land NRW
Am 17.03.2023 fand die lang erwartete Verhandlung am Oberverwaltungsgericht Münster statt und endete mit einer Zurückweisung der Berufung des Landes NRW, das bereits in erstinstanzlichen Verhandlungen am Verwaltungsgericht Düsseldorf, Köln und Gelsenkirchen unterlag.
Damit bestätigt nun auch das OVG Münster, dass die „Schlussbescheide“ der „NRW-Soforthilfe 2020“ rechtswidrig sind.
Das OVG verhandelte die drei Fälle des VG Düsseldorf. Reiner Hermann, Gründer der „Interessengemeinschaft NRW-Soforthilfe“ vertrat zusammen mit Dr. Sitsen (Kanzlei Orth Kluth) in der Verhandlung eine der Klägerinnen.
Aus den Reihen der IG NRW-Soforthilfe stammen rund 700 Kläger der insgesamt etwa 2500 Klagen gegen den „Schlussbescheid“ der NRW-Soforthilfe.
Nachfolgende Punkte hob das Oberverwaltungsgericht besonders hervor:
Lebenshaltungskosten der Selbständigen
In den FAQ zur „NRW-Soforthilfe 2020“ stand bis 01.04.2020 ca. 13:30 Uhr der Hinweis, die Soforthilfe könne auch zur Finanzierung der Lebenshaltungskosten verwendet werden. Dieser Hinweis wurde vom Land NRW ersatzlos gestrichen, nachdem klar war, dass der Bund dem Land diese Kosten nicht ersetzen würde.
Das Land NRW führte dann später eine „Vertrauensschutzlösung“ ein, nach der man eine Pauschale von 2000 EUR für Lebenshaltungskosten ansetzen dürfe, sofern der ursprüngliche Antrag im März oder April gestellt wurde.
Das OVG stellte klar, dass Antragsteller bis zu diesem Zeitpunkt die tatsächlichen Lebenshaltungskosten von der Soforthilfe decken durften. Es wurden jedenfalls dabei Parallelen zum „Vereinfachten Zugang zur Grundsicherung“ gezogen, nach deren Regelung man u.a. die Kosten der Wohnung in voller Höhe ansetzen konnte.
Dies sei auch ausdrücklich vom Zweck der Soforthilfe vorgesehen, die ja die „Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens bzw. des Selbstständigen“ zum Ziel hatte.
Die IG NRW-Soforthilfe begrüßt diese Entscheidung des OVG, die Lebenshaltungskosten umfassender zu berücksichtigen als lediglich durch eine Pauschale von 2000 EUR.
Mangelhafte Berechnungsgrundlage des „Rückmeldeverfahrens“
Das OVG merkte in der mündlichen Verhandlung an, das Land NRW habe den Soforthilfeempfängern im Rahmen eines „Rückmeldeverfahrens“ nur mangelhafte Möglichkeiten zur Berücksichtigung aller Kostenpositionen vorgegeben.
So sollten nach dem Willen des Landes die „Liquiditätsengpässe“ der Monate des Lockdowns mit den Umsätzen nach Ende des Lockdowns verrechnet werden, was nicht im Sinne des Förderzwecks der Soforthilfe sei.
Auch wurden den Betroffenen enge Grenzen gesetzt, welche Betriebsausgaben angesetzt werden durften. Unter anderem waren die Personalkosten nur unzureichend berücksichtigt, nämlich nicht als Betriebsausgabe, sondern lediglich als Abzug bei den Betriebseinnahmen, was unter betriebswirtschaftlicher Betrachtungsweise völlig unverständlich ist. Des Weiteren schränkte NRW die Betriebsausgaben für Ersatzinvestitionen nur bis zu einer Grenze von 800 EUR ein.
Die IG NRW-Soforthilfe begrüßt die Auffassung des OVG, die Soforthilfe hätte für sämtliche betrieblichen Verluste verwendet werden dürfen. Den Ausschluss von bestimmten Kostenpositionen betrachten auch wir als zweckfremd.
Schließlich kann ja niemand behaupten, die Personalkosten führten nicht zu einem „Liquiditätsengpass“, nur weil das Land NRW willkürlich festlegt, dass diese Kosten nicht förderfähig seien.
Zumal die Personalkosten willkürlich nur im jeweiligen Monat von den Betriebseinnahmen abziehbar sein sollten, und dies auch nur in maximaler Höhe der Betriebseinnahmen, während die Umsätze über die vollen drei Monate addiert betrachtet wurden und somit die Verluste während des Lockdowns ausgleichen sollten, wofür eigentlich die Soforthilfe hätte verwendet werden dürfen.
Automatisiertes Verfahren unzulässig
Das OVG hat die „Schlussbescheide“ außerdem für rechtswidrig erklärt, da sie in einem automatisierten Verfahren erlassen wurden, in dem die Soforthilfeempfänger lediglich nach den engen Vorgaben des „Rückmeldeverfahrens“ ihre Einnahmen und Ausgaben angeben konnten.
Es gab keinerlei Möglichkeit, auf besondere Umstände hinzuweisen oder Gehör von einem Mitarbeiter der bescheiderlassenden Behörde zu erlangen. Während in der Antragsphase noch ein Mitarbeiter die Anträge freigeben musste, sollte dies beim „Rückmeldeverfahren“ komplett automatisiert mit den Angaben der Soforthilfeempfänger beschieden werden. Unter Anderem diese Vorgehensweise führte nun zu der Rechtswidrigkeit der beklagten „Schlussbescheide“, die das OVG aufhob.
Die Mitglieder der IG NRW-Soforthilfe versuchten vor dem Rückmeldeverfahren, die jeweilige Bezirksregierung durch „Einwendungsschreiben“ auf ihre besonderen Umstände hinzuweisen. Zum Einen wurden zahllose Schreiben über die Berücksichtigung des „Umsatzausfalls“ per eMail und Einschreiben geschickt, zum anderen gingen auch unzählige weitere Schreiben über die Berücksichtigung von Lebenshaltungskosten bzw. der Krankenversicherungsbeiträge, da die Kultur- und Kunstschaffenden Dank angeblicher Verhandlungen des Kulturrat NRW die Beiträge der Künstlersozialkasse als Betriebsausgaben ansetzen durften.
Diese Einwendungsschreiben wurden sämtlich von den Bezirksregierungen ignoriert. Sie wurden weder beantwortet, noch fanden sich die Schreiben in zahlreichen digitalen Verwaltungsakten später wieder, die von den Verwaltungsgerichten angefordert wurden.
Gegen diese automatisierte Entscheidungsfindung legten zahlreiche Betroffene auch Beschwerde beim Landesdatenschutzbeauftragen ein, der jedoch „nach Rücksprache mit dem Landeswirtschaftsministerium“, anders als das OVG Münster, keine Verstöße gegen den Datenschutz gesehen haben will.
„Umsatzausfall“ gemäß Bewilligungsbescheid
Das OVG Münster folgte in diesem Punkt der Argumentation der Kläger leider nicht gänzlich. Nach Meinung des OVG sollte die Soforthilfe, auch wenn es dank schlechter Formulierung im Bewilligungsbescheid anders verstanden wurde, nicht zur Kompensation von entgangenen Umsätzen dienen. Die Richter bemerkten bei der mündlichen Verhandlung, dass man doch besser einen Sprachwissenschaftler über den Bescheidtext hätte Korrektur lesen lassen sollen.
Das OVG setzte bei den betroffenen Selbständigen voraus, dass diese außer ihrem Bewilligungsbescheid und den FAQs auch das Eckpunktepapier des Bundes sowie den Beihilferahmen für staatliche Beihilfen der Europäischen Kommission hätten kennen sollen, nach dem die Soforthilfe zur „Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens bzw. des Selbstständigen“ vorgesehen, wozu jedoch entgangene Gewinne nicht zählen sollen. Lebenshaltungskosten sowie eine umfassendere Berücksichtigung der Betriebsausgaben, als dies im Rahmen des Rückmeldeverfahrens vorgesehen war, sollten jedoch nach der Auffassung des OVG möglichst angemessener Berücksichtigung finden.
Die IG NRW-Soforthilfe kann diesen Begründungen nur bedingt folgen, da das OVG einen enorm großen Empfängerhorizont bei Selbständigen voraussetzt, die aufgrund des Lockdowns zur Eindämmung der Pandemie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Wirtschaftshilfe beantragen mussten und die außerdem nach vollmundigen Versprechen seitens der Politik und dem Wortlaut des Bewilligungsbescheides den Eindruck hatten, sie können die Pauschale behalten, wenn ihr Corona-bedingter Umsatzausfall größer war als die erhaltene Soforthilfe.
Die betroffenen Selbständigen haben den erlittenen Schaden nicht selbst verursacht, sie haben zum Wohle der Gemeinschaft und zur Eindämmung der Pandemie auf ihre Existenzgrundlage verzichten müssen, nachdem der Staat durch den beschlossenen „Lockdown“ massiv in die Grundrechte eingriff und somit unmittelbar finanzielle und wirtschaftliche Probleme bei den betroffenen Unternehmen verursachte.
Fazit und Ausblick
Offen bleibt nun, wie das Land NRW die Entscheidungen und Hinweise des OVG Münster in einem neuen Verfahren zum Nachweis der zweckentsprechenden Mittelverwendung umsetzen wird. Das Urteil lässt viel Interpretationsspielraum sowohl für NRW als auch für die betroffenen Soforthilfeempfänger, wie ein rechtgemäßes „Verwendungsnachweisverfahren“ der Soforthilfe-Mittel gestaltet werden kann.
Nicht nur die rund 2.500 Kläger gegen den rechtswidrigen Schlussbescheid sind von dieser Änderung betroffen, sondern auch rund 60.000 Antragsteller, die nicht am Rückmeldeverfahren teilgenommen hatten und ebenso rund 50.000 Antragsteller, die bis heute noch keinen Schlussbescheid bekommen haben, da NRW kurz nach Bekanntwerden der Klagewelle den weiteren Versand der „Schlussbescheide“ einstellte.
Unterm Strich muss NRW nun also für etwas mehr als ein Viertel aller Soforthilfeempfänger ein neues, rechtskonformes Verfahren schaffen. Automatisiert darf dieses nicht durchgeführt werden.
Die IG NRW-Soforthilfe wird jedenfalls SEHR genau und kritisch hinsehen, wie das Land NRW nun die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts umsetzen wird.
Unklar ist weiterhin, wie NRW mit den übrigen rund 315.000 rechtswidrigen Schlussbescheiden umgehen wird, die inzwischen trotz festgestellter Rechtswidrigkeit trotzdem bestandskräftig sind.
NRW beabsichtigt zumindest bisher, diesen unhaltbaren Zustand der Ungleichbehandlung aufrecht zu erhalten (siehe Pressmitteilung MWIKE vom 14.03.2023 sowie FAQ der Soforthilfe).
So wurden zuletzt sämtliche „Anträge auf Wiederaufgreifen des Verfahrens“ ohne nähere Prüfung mit Serienbrief-Bescheiden vollautomatisiert abgelehnt. Ein Verhalten, das nicht zu Frau Mona Neubaurs Aussage vom 07.10.2022 passt, man möchte eine „mögliche Ungleichbehandlung vermeiden“ (siehe Pressemitteilung MWIKE vom 07.10.2022).
Hier die Urteilsbegründung des OVG Münster:
https://www.justiz.nrw.de/nrwe/ovgs/ovg_nrw/j2023/4_A_1986_22_Urteil_20230317.html
(Stand: 11.04.2023)